Tagung
DER ARBEITSGEMEINSCHAFT HUMANE SEXUALITÄT (AHS)
ZUM THEMA
SELBSTBEFRIEDIGUNG – „DIE LUST AN UND FUR SICH“
AM 20.09.2001 IM HAUPTGEBÄUDE DER HUMBOLDT-UNIVERSITÄT BERLIN
Nach einer kurzen Eröffnungsrede übergibt der Vorsitzende der AHS, Claus Gradenwitz, den Referenten das Wort.
Die ersten beiden Vorträge befassen sich mit dem Thema Selbstbefriedigung aus kulturhistorischer und sexualwissenschaftlicher Sicht.
Dr. Karl Braun (Autor des Buches „Die Krankheit Onania“) [1] referiert zur Anti-Onanie-Kampagne, die um 1800 aufgeklärte Geister – weltgewandte Pietisten, Mediziner und Pädagogen – in einer kämpferisch-ablehnenden Haltung gegenüber der ‚Selbstbefleckung‘ verbindet. Sein historischer Einblick macht aber zugleich deutlich, daß es sich nicht um eine Verlängerung des alten Sündendiskurses handelt, sondern um einen wesentlichen historischen Einschnitt: erstmalig wird der Masturbation mit Vernunftargumenten entgegengetreten. Noch wesentlicher ist: Sexualität als abgrenzbarer Tatbestand und deren Problematisierung nimmt hier ihren Anfang: medizinisch als Sexualwissenschaft, pädagogisch als Sexualaufklärung. Diese Diskurse prägen die Selbstwahrnehmung und unser Verständnis sexueller Realität(en) bis heute. Brauns Vortrag, mit reichlich Anschauungsmaterial über verhärmte, dahinsiechende, onaniegeschädigte Jünglinge, läßt viele Fragen aufkommen: Haben die von den Ärzten geschilderten Symptome nicht ganz andere Krankheitsursachen? Tatsächlich sei davon auszugehen, daß Menschen bis zu einem gewissen Grade genau d e n Körper ‚leben‘, den Mediziner (heute auch Sexologen und Psychiater) beschreiben. Der absoluten Deutungshoheit der damaligen Eperten ist geschuldet, daß es keine pressure group gegeben hat, die die Selbstbefriedigung als positive Lusterfahrung verteidigte.
Dieter Mazurek und Denis Heyn sprechen als Mitglieder der AHS. Sie zitieren eine Langzeitstudie des Hamburger Sexualforschers Prof. Gunter Schmidt über die Veränderungen im Sexualverhalten von Studenten. [2] Nach den neuesten Befunden von 1996 ist dort von der Selbstbefriedigung als einer „eigenständigen Sexualform“ die Rede. Inwiefern dies gerechtfertigt ist – nämlich als eine Entschlackung der Masturbation von allen bedeutungstragenden Funkionen: als Not-, Erprobungs-, Trost- oder Entwicklungs-Onanie – wird ebenso besprochen, wie mögliche Irrtümer, die sich aus der simplifizierenden These ergeben: im Akt der Selbstbefriedigung sei der Andere immer präsent – als Phantasie, als pornographisches ‚Kopfkino‘. Für Bevölkerungsgruppen, denen aufgrund einer verbotenen Objektpräferenz, einer Behinderung oder einer Unmündigkeitserklärung das Recht auf Sexualpartner beschnitten wird, ist die „eigenständige Sexualform Selbstbefriedigung“ als Praktik und bloße Phantasietätigkeit keine glückversprechende Alternative. Mithin, das Beweisen Schmidts Statistiken, werde Selbstbefriedigung nicht alternativ zu Partnersexualität verstanden, sondern als zusätzliche Form gelebter Sexualität, zusätzliche Genußmöglichkeit. Im Anschluß an die Vorträge entspinnt sich eine Debatte um den Begriff „eigenständige Sexualform“, die allerdings zu keinem befriedigenden Schluß kommt.
Nach der Mittagspause spricht Matthias Vernaldi als Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft für selbstbestimmtes Leben schwerstbehinderter Menschen“ (ASL). Sein Erfahrungsbericht kontrastiert durchaus angenehm zu den theoretischen Beiträgen des Vormittags. Vernaldi wird durch multiple Sklerose behindert – auch und gerade in der Enfaltung seiner Sexualität, wo zusätzliche Vorurteile auf ihn wirken: Sex von Behinderten ist stark tabuiert, offenbar erwartet man stillschweigenden Verzicht und Leidensbereitschaft. Sehr anschaulich bezeugt dies die empörend abweisende Antwort des taz-Anzeigenredakeurs auf ein Partnersuche-Inserat. Seine polemische und couragierte Rückantwort erntet befreienden Beifall unter den Zuhörern. Vernaldi diskutiert über pro und kontra der Sexualassistenz, die für etliche Körperbehinderte eine mögliche Alternative zur autoerotischen „Lust an und für sich“ bedeute – zumal nach der bevorstehenden Anerkennung der Prostitution als Beruf. Trotzdem sich Vernaldi mit seiner Intiative „Sexybilities“ (in der ASL) für diese Möglichkeit einsetzt, bereite ihm die Vorstellung, eine Dienstleistung beanspruchen zu sollen (Stichwort: Sex auf Krankenschein), ein deutliches Unbehagen.
Im Anschluß liest der Schriftsteller und Verleger Reinhard Knoppka eine amüsante Passage aus Miriam Brauns Briefroman „Du Herrliche“: von der respektlosen Wichsphantasie eines Mannes, die in der offenbar devot-schwärmerischen Haltung der Adressatin auf eigentümliche Resonanz trifft.
Dies leitet über zum Schlußpunkt der Veranstaltung, den Marianne W. Bayer vom Beratungstelefon der AHS e.V. setzt. Eine Kritzelzeichnung, die ihre Vorstellung eines Kusses symbolisiere, gibt zunächst Anlaß zu amüsanten Deutungen. Marianne Bayer fragt nach den Ursachen für die Probleme, die nach ihrer Einschätzung viele Frauen mit der Masturbation haben. Es sei, so die Behauptung, überhaupt noch nicht eingehend gewürdigt worden, daß es Personen gibt, die lustvoller auf den ‚Tiefensinn‘ ansprechen – und Personen, die sexuelle Stimulation vorranging über Oberflächen- und Hautreize erfahren. Sozial-ethische Wertungen über die ‚richtige‘ Sexualität der Frau pendelten im Verlauf der letzten Jahrzehnte von der patriarchalen Behauptung des Tiefensinns (Minderwertigkeit des klitoralen Orgasmus) zu dessen Verteufelung. Damit ginge einher, was im Namen der Vernunft, des kritischen Bewußtseins und der Mädchenemanzipation gegen frühverliebte Kinder und junge Frauen zu Felde geführt wird: Nicht mehr die Selbst-Liebe wird in der verlängerten und pädagogisierten Jugendzeit tabuisiert, sondern die Hingabe an den „ganz anderen“ außerhalb der Kernfamilie. Ein neues Tabu – in der ohnehin immer kulturell normierten Sexualität des Menschen und der in ihr gründenden Geschlechterdifferenz.
Die Diskussion zerstreut sich gegen Ende: im Mittelpunkt steht die alte, wohl immer noch aktuelle Frage, ob es eine ‚gesundes‘ bzw. unzuträgliches Maß an Selbstbefriedigung gebe – und die Vergewisserung eines angemessenen therapeutischen Umgangs mit sexuellem Übermaß und sexueller Devianz: Therapie vermag nie zu ‚heilen‘ – von Sexualität schon gar nicht. So menschlich jede sexuelle Praxis, so harmlos gar die Masturbation sei – auch das Wichsen kann als Symptombildung verstanden werden, durch die sich der Mensch in der Entfaltung seiner Beziehungs- und Liebesfähigkeit selbst behindert. Dies anzunehmen, sei aber i m m e r Sache der Betroffenen.
[1.] Karl Braun, Die Krankheit Onania: Körperangst und die Anfänge moderner Sexualität im 18. Jahrhundert. Frankfurt/ Main; New York: Campus Verlag, 1995 (Historische Studien; Bd. 16)
[2.] Gunter Schmidt, Kinder der sexuellen Revolution. Kontinuität und Wandel studentischer Sexualität 1966 – 1996, eine empirische Untersuchung. Gießen 2000