von Reinhard Knoppka
Nils Engelmann: „Lufträume“ – Taschenbuch – 386 Seiten (1998) – Jahn und Ernst, Hbg. ISBN: 3894072318. Das Buch ist über den Buchhandel für DM 38,80 (EUR 19,84) erhältlich oder kann via Internet zum Beispiel direkt bei amazon.de bestellt werden.
Soeben habe ich den ersten Roman von Nils Engelmann, „Lufträume“, gelesen, eine Autobiographie – ein dicker Wälzer, der mich betroffen gemacht und gepackt hat. Es ist ein anschaulicher Lebensbericht, in dem der Autor detailliert seinen Werdegang schildert, vom kleinen Jungen in entsetzlichen Familienverhältnissen bis hin zum drohenden Gerichtsverfahren wegen seiner pädophilen Neigungen. Nach der Lektüre habe ich das Gefühl, den Autor besser zu kennen als beispielsweise meine Nachbarn, mit denen ich schon jahrelang Wand an Wand lebe, denn Engelmann hält mit nichts hinterm Berg und das finde ich einerseits mutig, andererseits erfrischend: Wer ist schon so ehrlich – und gar als Pädo? Ich kann die Stationen dieses (Leidens-)Lebensweges gut nachvollziehen, fast so, als identifizierte ich mich mit der Romanfigur, die quasi als mein Alter-ego losgezogen ist, um sowohl das Fürchten als auch die Liebe kennenzulernen. Was der Ich-Figur, Nils, widerfahren ist, schon als Kind mit dem Alkoholikervater und später im Clinch mit der Justiz, ist wahrlich schauerlich, und ich glaube kaum, daß ich das alles heil durchgestanden hätte. Der Protagonist hat ja auch Blessuren und Narben genug davongetragen, die ihn fast das Leben gekostet hätten: durch einen zum Glück gescheiterten Suizid – ein in den Selbstmord Hineingetriebenwerden, also letztlich eine Art Mordversuch der Gesellschaft an einem ihr unliebsamen Mitglied! Auf der anderen Seite hat der Protagonist intensive Begegnungen mit Jungen gehabt, um die er zu beneiden ist und die längst nicht jeder Pädo auf so beglückende Weise erlebt hat: dies ist ein Kapitel, von dem er gewiß auch in schlimmen Zeiten zehren wird – wenigstens etwas! Die Portraits der Jungen sind plastisch und lebendig: man hat sie direkt vor Augen und möchte am liebsten teilnehmen an den Unternehmungen mit ihrem erwachsenen Freund. Natürlich ist auch das Portrait des erst kleinen, dann größeren, schließlich erwachsenen Nils sehr eindringlich! Der (einfühlsame) Leser leidet mit, haßt mit, verachtet mit, liebt mit etc. Der Wunsch nach Selbstauslöschung ist sehr evident. Bewundernswert immer wieder die Power, mit der das „Stehaufmännchen“ Nils weitermacht, nicht aufsteckt, sich wieder verheddert: dem Schicksal scheint er nicht zu entkommen, und der Götter Liebling scheint er nur manchmal (zusammen mit einem Jungen) zu sein, wofür er dann aber wieder bitter zahlen muß im Kontakt mit widerlichen Amtsinhaber/innen. Ganz besonders gehaßt habe ich die Schinder, den BKA-Fritzen, den Richter und die Jugendamts- „Sesselfurzer“! Man sieht, ich war nicht objektiv beim Lesen. Wertvoll und wichtig an diesem Text ist der 0-Ton: geradezu eine Dokumentation von Betroffenen, und zwar mal eine intelligentere als die üblicherweise von Pädos abgesonderten, die oft entweder verklären oder verzerren. Aber wie es wirklich in deutschen Gefängnissen aussieht – da habe ich höchstens noch entfernt Peter Schult (BESUCHE IN SACKGASSEN) in Erinnerung. Aber sonst? Wo sind die „Betroffenheitsberichte“ der zahllosen eingesperrten, kaputtgemachten, in den Selbstmord getriebenen Knabenliebhaber? Sie haben anscheinend keine Sprache – oder wird sie ihnen einfach genommen, indem man ihnen erst ihre Persönlichkeit nimmt. Soviel Betroffenheitsliteratur von sogenannten Mißbrauchten geistert durch die Verlagslandschaft – wo bleibt die der vom Mißbrauch mit dem Mißbrauch Betroffenen? So gesehen ist dieser Text hochbrisant, beackert er geradezu ein unbestelltes Feld: es gibt also noch Themen, die nicht hoffnungslos abgegrast sind, ausgerutscht geradezu – das beweist der Roman „Lufträume“. Dieser Begriff kommt aus der Knastsprache, wonach eine Gefängniszelle zynischerweise nach ihrem Luftraum bemessen wird. Das paßt auch auf die sogenannte Freiheit: ein Pädo ist jederzeit im Knast, also in einem „Luftraum“, da er nun mal kriminalisiert ist, und seine ganze Handlungsweise richtet sich nach dieser Zwangsmaßnahme, oft vielleicht nur unbewußt, aber existent ist der Knast immer, in Form von Ängsten, Schuldgefühlen, Minderwertigkeitskomplexen etc.
„Lufträume“ ist ein wichtiger Text. Es gibt mehr Pädos, als man gemeinhin glaubt. Dieser Text hat die wesentlichen Kernpunkte, die die Pädophilie betreffen, auf den Punkt gebracht, sowohl im Epilog als auch mitten im Erzählen. Nils Engelmann (Den Namen sollte man sich merken!) weist auf die Absurdität der überall herrschenden Doppelmoral hin. Er hat das Zeug, Sprachrohr, auch in theoretisch-politischer Hinsicht, für viele zu sein, die eben keine Sprache haben – nur ihre Sentimentalität und ihren Weltschmerz, an dem sie zugrunde gehen. Daher wünsche ich diesem Roman viel Erfolg!